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Serie Tierosteopathie: Spannende Praxisfälle

TEIL 5

Schon mein Opa sagte: „Wenn man in der Medizin nichts Neues versucht, wären wir immer noch beim Aderlass.“ Wie Recht er damit hatte! In den vergangenen Ausgaben von „Mein Tierheilpraktiker“ haben wir erfahren, wie wir mit der parietalen, der viszeralen und der craniosakralen Therapie, dem Fasziensystem und mit unserem Palpationsvermögen so manches medizinisches Rätsel lösen können, das sonst nur durch Röntgendiagnostik oder ein MRT aufzuklären wäre.
Wie oft schon hatten wir Hunde mit angeblicher Epilepsie, Tachykardie, Atemproblemen bis hin zu Paresen und/oder Monoparesen in unseren Praxen. Mark Twain wusste: „Seien Sie vorsichtig mit Gesundheitsbüchern! Sie könnten an einem Druckfehler sterben.“ Klingt lustig – ist es aber nicht.
In der Medizin ist alles möglich. Sichere Diagnosen sind selten, denn manchmal existieren mehrere „Baustellen“, und oft ist eine Diagnose schnell gestellt und bei längerer Überlegung vielleicht doch falsch. Die Schnelllebigkeit ist das Problem: Ärzte, die zeitlich völlig überfordert sind, weil mitunter 40 Patienten oder mehr täglich in die Praxis kommen, Tierbesitzer, die nicht immer die Wahrheit sagen, Medikamente, die so symptomverdeckend sind, dass der Hund oder das Pferd nichts, aber auch gar nichts anzeigt.
Wichtig ist: Lernen Sie die Anatomie! Ohne fundierte Anatomiekenntnisse finden Sie die Pathologie nicht heraus. Angewandte Anatomie ist das Herzstück der guten Diagnostik! Hierzu zwei spannende Praxisfälle:

PRAXISFALL 1

Wonder, eine kleine, quirlige Sheltiehündin, kam nach monatelanger Odyssee mit offensichtlichen Atemproblemen zu mir in die Praxis. Bei der Patientin fiel direkt auf, dass sie kurzatmig war und keine tiefe Inspiration ausführen konnte. Die Besitzer hatten Röntgenbild und MRT machen lassen, auch ein Ultraschallbild war ohne Befund. Bei der Untersuchung fiel mir auf, dass die Atlasportion auf der linken Seite deutlich verdickt war und die Biomechanik des Schulterblattes (Scapula) nicht funktionierte. Das Heben des Schulterblattes war auf der einen Seite massiv eingeschränkt, und ich stellte weiterhin eine Fehlrotation der Wirbelsäule fest. Durch eine gründliche Auskultation der Lunge konnte ich erkennen, dass die Atemgeräusche nicht bis nach hinten gelangten. Im Gangbild sah ich, dass der Hund keinen „Raumgriff“ hatte und das Schulterblatt sich auf der einen Seite nicht richtig gehoben hatte. Also hieß meine Verdachtsdiagnose „Rippenkopfläsion“.
Beim Hund setzt die erste Rippe zwischen dem letzten Halswirbel (C7) und dem ersten Brustwirbel (Th1) an. Bei der Einatmung (Inspiration) weitet sich der Brustkorb und der Rippenkopf gleitet an der Wirbelsäule bauchwärts (nach ventral). Bei der Ausatmung (Exspiration) gleitet er Richtung Rücken (nach dorsal). Wenn das Rippenköpfchen am dorsalen Ende blockiert, kann sich der Brustkorb bei der wechselseitigen Ein- und Ausatmung nicht mehr heben und senken, der Hund wird kurzatmig.
Nach Mobilisierung des entsprechenden Rippenköpfchens konnte der Hund wieder tief einatmen.

PRAXISFALL 2

Räusperzwang und Schluckzwang sind auch in der Humanmedizin bekannte Phänomene. In der Literatur werden sie wie folgt beschrieben: „Räusper- und Schluckzwang werden vor allem durch funktionelle Stimmstörungen ausgelöst. Als seltene organische Ursachen kommen Fremdkörper oder Sodbrennen, aber auch Blockaden der Halswirbelsäule und Muskelverspannungen in Frage“.
Aus osteopathischer Sicht kann es aber auch der Nerv sein, der den Kehldeckel innerviert. Bei Fehlinnervation kann sich der Kehldeckel nicht richtig schließen und es bildet sich immer ein wenig Speichel darunter. Dieser löst dann auf der Luftröhre liegend immer wieder Räusperzwang aus. In Lehrbüchern und von Medizinern wird dieses Problem nicht weiter neuronal beschrieben oder erklärt, und leider gibt es keinen therapeutischen Ansatz, der dieses vom Spinalnerv ausgelöste Problem bereinigt. Daher propagiere ich immer im Unterricht, dass das Erlernen und Wissen der Anatomie der Schlüssel zu einer guten Diagnostik ist. Zwischen den Segmenten C5 und C6 der Halswirbelsäule ziehen neben dem Spinalverv zwei weitere Nerven heraus, der Nervus vagus reccurens laryngeus (Kehlkopf) und der Plexus pharyngeus. Diese beiden innervieren den Kehldeckel und verursachen u.a. den Räusperzwang. Eine weitere Folge kann eine Reccurensparese (Lähmung der inneren Kehlkopfmuskulatur) sein. Diese tritt z. B. als Komplikation bei einer Thyroidektomie (Schilddrüsenentfernung) auf.
Im osteopathischen Therapieansatz befreien wir den austretenden Spinalnerv aus den Segmenten C5 und C6 und jeweils die drei davor und dahinter liegenden Spinalnerven, um die ordnungsgemäße „Stromversorgung“ wieder herzustellen. Dies erfolgt parietal direkt oder indirekt, auch über die craniosakrale Therapie.

In meiner Osteopathie-Ausbildung habe ich gelernt, dass ein Spinalnerv für alles – und zwar wirklich alles – verantwortlich sein kann. Egal, ob es Probleme mit der Muskulatur oder den Faszien gibt, ob funktionelle Schwächen von Organen, Hautprobleme, Hotspots oder Allergien, Pfoten lecken, ständiges Kratzen bis hin zu Hyperästhesien auftreten – der Nerv trägt seinen Namen zu Recht, denn er „nervt“!

Wenn ich Sie für die Osteopathie am Hund begeistern konnte, freue ich mich sehr darüber, wenn Sie zum Hineinschnuppern ins Thema mein Seminar „Moderne Osteopathie“ besuchen, das ich an verschiedenen Paracelsus Schulen immer wieder anbiete. In den zwei Seminartagen lernen Sie die wichtigsten Tricks der Hundeosteopathie.

OLAF MORRACK
TIERHEILPRAKTIKER

TÄTIGKEITSSCHWERPUNKTE
Osteopathie und Physiotherapie für Hunde und Pferde, Arthrosebehandlung, Studienleiter der Paracelsus Schule Münster

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