"Warum tut er das?!" Hundeverhalten verstehen - Teil 2
Das Nervensystem ist für eine optimale Interaktion des Individuums bzw. des Organismus mit der Umwelt und die Aufrechterhaltung lebenswichtiger Abläufe im Körperinneren zuständig. Eine schnelle Übertragung von Informationen und demnach auch eine schnelle Reaktion auf Reize ist nur möglich, weil das Nervensystem alle aus der Umwelt aufgenommenen Informationen weiterleitet und verarbeitet.
DAS NERVENSYSTEM BESTEHT AUS
- dem peripheren Nervensystem (somatisches und vegetatives Nervensystem) = z.B. die Sinneszellen (Nervenzellen) und
- dem Zentralnervensystem (ZNS) = Gehirn und Rückenmark.
- Insgesamt gibt es ca. 100 Milliarden Nervenzellen, die Neuronen genannt werden.
Das Gehirn ist die oberste Steuerungszentrale, die alle Reaktionen und Funktionen des Organismus lenkt und kontrolliert. Damit es diese Funktion ausführen kann, ist es auf die Versorung mit Informationen durch das Nervensystem angewiesen. Hierfür gibt es das periphere sowie das autonome Nervensystem und das Hormonsystem.
DAS ZENTRALNERVENSYSTEM
Das Gehirn besteht aus folgenden großen Abschnitten:
- Verlängertes Mark (Medulla oblongata) und Rückenmark
- Hinterhirn mit Brücke und Kleinhirn
- Mittelhirn
- Zwischenhirn
- Endhirn mit zwei Großhirnhälften, dem Cortex und dem Riechhirn
Das Gehirn ist von einer schützenden Hirnhaut und der Gehirnflüssigkeit (Liquor) umgeben. Mit Hilfe des Liquors und Blutes werden Transmittersoffe aus dem Nervensystem zum Gehirn transportiert. An der Blut-Hirn-Schranke entscheidet sich, welche der vorhandenen Stoffe ins Gehirn gelangen und dort infolge der übermittelten Informationen in Reaktionen verwandelt werden können.
Verarbeitung von Reizen und Informationen im Gehirn
Jeder Abschnitt im Gehirn ist für eine andere Aufgabe zuständig, allerdings kann ein Abschnitt allein nichts bewirken. Bei der Entstehung von traumabedingten Folgestörungen und Ängsten spielen die Großhirnrinde, also der Cortex und die Amygdala (der Mandelkern), gemeinsam mit dem limbischen System die Hauptrollen.
Die erste Station für Reize aus der Umwelt ist das limbische System, v.a. die Amygdala. Diese kann auch als Emotionszentrum bezeichnet werden, da sie maßgeblich dafür verantwortlich ist, ob ein Reiz positiv oder negativ verknüpft wird und eine entsprechende Handlungsbereitschaften auslöst. Ohne diese Verknüpfung ist weder Lernen noch Gedächtnis, folglich auch keine Interaktion mit der Umwelt möglich. Das Großhirn ist für die räumliche und zeitliche Kommunikation mit der Umwelt und Speicherung sowie der Bewertung verschiedener Reize zuständig.
Wenn ein Reiz von der Amygdala wahrgenommen wird, muss diese eine schnelle Entscheidung treffen, die dem Hund im Ernstfall das Leben rettet. Wird der Reiz als potenziell bedrohlich eingestuft, herrscht „Alarmstufe Rot“ und es geht darum, das Überleben zu sichern. Erst nach dieser „Notfallreaktion“ wird die Information an die Großhirnrinde weitergeleitet, mit dort gespeicherten Informationen aus vorhergehenden Erfahrungen verglichen und bewertet. Im Fall einer traumatisierenden Situation schaltet das Gehirn auf einen „Schockmodus“ um, der sich jeder willentlichen Kontrolle entzieht und primär das Überleben sichert. Das Gehirn ist mit einem doppelten Bewertungssystem ausgestattet, das einmal das unmittelbare Überleben gewährleistet (Amygdala) und zum anderen dafür sorgt, dass keine unnötige Energie an ungefährliche Einflüsse verschwendet wird (Bewertung durch die Großhirnrinde). Diese Zusammenarbeit ist für Lernprozesse sinnvoll, häufig aber auch hinderlich, sodass das Gefühl entstehen kann, das Gehirn arbeitet bei einer Traumatherapie komplett gegen uns.
Solange das limbische System Reize verarbeitet, befindet sich der Organismus in einem Alarmzustand, der mit höchster Erregung verbunden ist. Hier ist es unmöglich, sich zu konzentrieren und eine vernünftige Entscheidung zu treffen bzw. Informationen überhaupt an die Großhirnrinde zur Bewertung weiterzuleiten. Der gesamte Organsmus bleibt in einem Ausnahmezustand und wird von den angstauslösenden Reizen überflutet. Eine Auswertung bzw. Bewertung der einzelnen Reize ist nicht möglich, auch kein Lernprozess und keine „vernünftige“ Reaktion. Die ankommenden Informationen bleiben dauerhaft potenziell lebensgefährlich, solange das Erregungs- und Stressniveau des Hundes gereizt ist und er sich nicht entspannen kann.
Erst dann, wenn ein gewisses Entspannungs- bzw. Ruheniveau erreicht ist, kann eine Weiterleitung der Informationen an die Großhirnrinde stattfinden. Ist dieser Schritt geschafft, ist das Gehirn „auf unserer Seite“, denn es hemmt weitere Erregungen dadurch, dass es sich voll auf die empfangenen Informationen konzentriert und diese auswertet. Die Großhirnrinde kann auch als „Stressbremse“ bezeichnet werden, da sie die Aktivität der Amygdala bremst bzw. hemmt, Erlebtes verarbeitet, Aktivitäten für die Zukunft bewusst und unter Bezugnahme auf vorhandenes Wissen und gemachte Erfahrungen plant.
Diese Tatsache erklärt auch, warum es nicht sinnvoll ist, einen Hund zu „Trainingszwecken“ stressigen und belastenden Situationen auszusetzen, denn die Aufregung macht jede Bewertung der Situation und damit jedes Lernen unmöglich, da primär das „nackte Überleben“ im Vordergrund steht.
Bei jeder erneuten Konfrontation mit einem Trigger schaltet das Gehirn sofort wieder in den „Schockmodus“ und reagiert mit reflexartigen Schutzmechanismen.
DAS PERIPHERE NERVENSYSTEM
Die Nervenzelle
Nervenzellen können auch als „Bausteine des Nervensystems“ bezeichnet werden und stellen eine Sonderform der tierischen Zellen dar. Sie bestehen aus einem Zellkörper mit Zellkern, dem Zytoplasma mit verschiedenen Zellorganellen, dem Zytoskelett, das ihnen ihre räumliche Struktur verleiht, und einer schützenden Zellmembran. Am Ende jeder Nervenzelle befinden sich ein oder mehrere verschiedene Fortsätze, die Dendriten.
Die wichtigste Rolle bei der Weiterleitung von Informationen spielen die Nervenfasern mit ihren Axonen (Fortsatz einer Nervenzelle), die je ein synaptisches Endköpfchen besitzen. Ein Axon ist die wichtigste Fernverbindung zwischen den Nervenzellen (Neuronen). Es verbindet eine Nervenzelle mit anderen Nervenzellen. Die elektrische Weiterleitung von Informationen erfolgt über Aktionspotenziale. Kommt ein elektrisches Signal an einer Präsynapse an, wird es in ein chemisches Signal umgewandelt. Je nachdem, wie stark das Signal ist, werden mehr oder weniger Neurotransmitter aus den Vesikeln in den synaptischen Spalt abgegeben.
Die Synapse
Synapsen stellen die Verbindungen einzelner Nervenzellen her. Zwischen den synaptischen Endköpfchen der einzelnen Axone besteht immer ein kleiner synaptischer Spalt.
Vesikel
Die Vesikel befinden sich nahe der synaptischen Membran. Sie können sich öffnen und die zur Verfügung stehenden Botenstoffe (Transmitter) in den synaptischen Spalt abgeben.
Neurotransmitter
Hierbei handelt es sich um Informationsübermittler, die Botenstoffe. Je nachdem, wie viele Transmitter ausgeschüttet wurden, wird ein leichtes oder starkes elektrisches Signal weitergeleitet.
WIE NERVENZELLEN MITEINANDER KOMMUNIZIEREN
Die Dendriten nehmen die elektrischen Signale, die durch Reize von außen entstehen, auf und leiten sie entlang der Nervenzelle weiter. Ist diese Information, der elektrische Reiz, am Ende des Axons angekommen, werden vom synaptischen Endköpfchen Informationsüberträger (Transmitter) in den synaptischen Spalt abgegeben. Die Transmitter wandern im synaptischen Spalt zum gegenüberliegenden synaptischen Endköpfchen, werden dort nach dem „Schlüssel-Schloss-Prinzip“ aufgenommen und leiten die Information weiter bzw. lösen bestimmte Reaktionen oder Emotionen aus. In der benachbarten Zelle ist es ebenfalls zu einer Erregung gekommen, die von dieser an die nächste weitergegeben wird etc.
DAS AKTIONSPOTENZIAL
Weiterleitung von Informationen durch Aktionspotenziale
Ein Impuls läuft immer gleich ab und enthält keine codierten oder verschlüsselten Informationen. Nachrichten, z.B. darüber, wie groß ein Schmerz ist, werden durch die Impulsfrequenz, also die Anzahl der Zeiteinheiten, übermittelt. Es existiert außerdem ein „Alles-oder-Nichts-Prinzip“. Das bedeutet, dass das Nervensystem eine Entscheidung treffen muss, ob es sich lohnt, auf einen Reiz zu reagieren oder nicht. Fällt die Entscheidung gegen eine Reaktion aus, wird der Reiz als unwichtig ausgeblendet und nicht weiterverarbeitet. Es erfolgt keinerlei Reaktion darauf. Wird der Reiz als wichtig eingestuft, wird ein Aktionspotenzial ausgelöst und der Hund zeigt eine Reaktion auf den Reiz.
Biologische Grundlagen der Entstehung eines Aktionspotenzials
Während des Ruhepotenzials sind im Inneren der Zelle genauso viele positiv geladene K+(Kalium)-Ionen, wie sich im Äußeren der Zelle Na+(Natrium)-Ionen befinden. Die Voraussetzung dafür, dass eine Depolarisation zur Schwelle und damit das Umkippen der Zellmembran stattfinden kann, ist eine erhöhte Leitfähigkeit der Zellmembran für Natrium-Ionen. Durch ankommende Impulse von außen wird die Zellmembran leitfähiger und leitet Na+-Ionen ins Innere der Zelle. Die Zelle wird durch den Einstrom von Na+-Ionen in ihrem Innenraum positiver als der Extrazellularraum (Außenraum). Schon weniger als eine Millisekunde, nachdem die Na+-Ionen ins Innere der Zelle gelangt sind, ist das Maximum des Aktionspotenzials erreicht. Ab diesem Zeitpunkt nimmt die Leitfähigkeit der Zellmembran für K+-Ionen stark zu und diese werden vermehrt aus der Zelle geleitet. Das Ladungsungleichgewicht wird sehr schnell ausgeglichen. Da mehr K+-Ionen aus der Zelle ausströmen als Na+-Ionen in die Zelle hineingeströmt sind, wird das Innere des Intrazellularraums negativer als der Extrazellularraum. Diese negative Bilanz ist für die absolute Refraktärphase verantwortlich. Da mehr K+-Ionen aus der Zelle herausströmen als vorher Na+-Ionen hineingeströmt sind, werden die Na+-Ionen deaktiviert. Ihre positive Ladung ist nicht stark genug, um die Leitfähigkeit der Zellmembran für Na+-Ionen zu gewährleisten. Es kann kein weiteres Aktionspotenzial ausgelöst werden, egal wie stark die Membran depolarisiert wird. Die Zelle ist also gerade nicht erregbar. Neben dieser absoluten Refraktärphase gibt es noch mehrere relative Refraktärphasen, in denen ein Aktionspotenzial nur durch sehr hohe Depolarisationen der Membran ausgelöst werden kann. Die Amplitude der hierdurch auslösbaren Aktionspotenziale fällt sehr viel kleiner aus als bei normalen Aktionspotenzialen.
Einige Millisekunden nach einem Aktionspotenzial ist das Natriumsystem wieder aktivierbar und es können normale Aktionspotenziale ablaufen.
Wichtig ist, dass bei lebensrettenden Maßnahmen und Emotionen wie Angst diese Refraktärphase nicht existiert. Treten mehrere potenziell oder tatsächlich lebensbedrohliche Ereignisse hintereinander auf, sind entsprechend viele Reaktionen des Hundes möglich. Das erklärt auch, warum die hohe Erregung des Hundes nach einem traumatischen Erlebnis zum Dauerzustand werden kann.
Weiterleitung eines Aktionspotenzials
An einer Nervenzelle wird das Membranpotenzial bis zur Schwelle depolarisiert und das Aktionspotenzial ausgelöst. Zwischen der erregten Membranstelle und der unerregten Membranstelle besteht ein elektrischer Spannungsunterschied. Die elektrischen Impulse werden von der ursprünglich erregten Stelle entlang der ganzen Nervenzelle weitergeleitet. Das bedeutet, dass nach dem Prinzip einer Kettenreaktion an allen benachbarten Stellen der Zelle Aktionspotenziale ausgelöst werden, die selbst wieder neue Aktionspotenziale in ihren benachbarten Regionen auslösen.
Da Synapsen ihre Impulse immer nur in eine Richtung weitergeben, werden die Aktionspotenziale nur in eine Richtung ausgelöst. Ein Zurücklaufen ist nicht bzw. nur sehr schwer möglich, da die Stellen, die gerade ein Aktionspotenzial hatten, bedingt durch die absolute Refraktärphase, nicht sofort wieder eines auslösen können. Der Impuls kann sowohl vom Axon in den Zellkörper als auch vom Zellkörper zum Axon weitergeleitet werden.
DIE BEDEUTUNG VON SYNAPSEN FÜR LERNPROZESSE
Lernprozesse können die Effektivität der Synapsen langfristig verändern. Durch wiederholte Reizung einer Synapse finden laufend biochemische Prozesse statt. Diese bewirken eine Verstärkung oder Abschwächung der Übertragung an der Synapse. Wird eine Verstärkung der Weiterleitung erreicht, werden entweder dauerhaft mehr Transmitter in den synaptischen Spalt abgegeben oder es stehen an der postsynaptischen Membran mehr Rezeptoren zur Verfügung, in die die Transmitter passen. Dieser Effekt wird bei der Durchführung einer Verhaltenstherapie sowie für den Einsatz von Medikamenten, homöopathischen Mitteln und auch Bach-Blüten genutzt.
DAS VEGETATIVE (AUTONOME) NERVENSYSTEM
Das vegetative Nervensystem ist für die Steuerung des inneren Milieus (Gleichgewichtes) des Organismus verantwortlich. Es kann nicht durch den Willen beeinflusst werden. Alle Reaktionen laufen reflexartig und unbewusst ab. Das vegetative Nervensystem besteht aus Sympathikus und Parasympathikus:
Sympathikus
Der Sympathikus bereitet den Körper in einer belastenden Situation auf einen Kampf oder eine Flucht vor, indem er dafür sorgt, dass die dafür benötigte Energie bereitgestellt wird. Herz- und Atemfrequenz werden erhöht, Blutdruck und Durchblutung der Muskulatur ebenfalls, während Verdauungsvorgänge gebremst werden. Durch eine Aktivierung des Nebennierenmarks, einem Bestandteil des Sympathikus, werden Stresshormone wie Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet. Je stärker die emotionale Belastung des Hundes ist, desto mehr Stresshormone werden produziert.
Parasympathikus
Der Parasympathikus ist für die Körperfunktionen in Ruhesituationen zuständig. Die Vitalparameter wie Herz- und Atemfrequenz kehren wieder zu ihren Ruhewerten zurück und die Verdauungstätigkeit wird angeregt. Funktionell gesehen sind Sympathikus und Parasympathikus Gegenspieler, wobei der Sympathikus den Status „fight or flight“ und der Parasympathikus den Status „rest and digest“ übernimmt.
In der nächsten Ausgabe lesen Sie, inwieweit das Hormonsystem an der Weiterleitung von Informationen und damit an den wichtigen Stoffwechselvorgängen beteiligt ist.
ALEXANDRA HOFFMANN
TIERPSYCHOLOGIN UND HEILPRAKTIKERIN FÜR PSYCHOTHERAPIE MIT PRAXIS IN GERMERING
TÄTIGKEITSSCHWERPUNKTE
Bach-Blütentherapie für Hunde, Veterinärhomöopathie, Humanpsychologie, Notfallmedizin, Prävention und Gesundheitsförderung in der Tiermedizin, Dozentin an den Paracelsus Schulen
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