Vogelkrankheiten - Die Grätschbeinproblematik
Angeborene oder im Kükenalter erworbene Beinfehlstellungen sind den Haltern vieler Vogelarten bekannt. Das Krankheitsbild eines stark ausgeprägten Grätschbeins, also einer Beinstellung, bei der ein Bein (seltener auch zwei) im rechten Winkel oder einem noch größeren Winkel von der gesunden Beinstellung abweicht bzw. das Bein seitlich vom Rumpf abgespreizt wird, stellt einen mit dem Überleben in der freien Natur (inkl. dem urbanen Biotop) nicht vereinbaren Faktor dar. Es wird insbesondere bei Stadttauben-Abkömmlingen eher selten therapiert, da die dafür durchaus verfügbaren veterinärmedizinischen Möglichkeiten entweder nicht bekannt oder zu kostspielig sind.
OPERATION MUSS SEIN
Meistens kommen solche Jungtäubchen erst in Tierschützer-Obhut, wenn sie im Alter von wenigen Wochen aus dem Nest geworfen werden, weil die Eltern die Behinderung, die jegliches Aufstehen und Laufen lernen unmöglich macht, dann erkennen. Oft zappelt das betroffene Bein in dramatischer Position über dem hektisch schlagenden Flügel und zerschlägt dabei mit den Krallen die gerade erst gebildeten Federn, wenn das Vogeljunge vergeblich versucht hochzukommen. Da es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät ist, den Schaden durch gezieltes Zusammenbinden der Beine zu beheben, bleibt als Option lediglich ein aufwendiger chirurgischer Eingriff, der in Deutschland nur von wenigen spezialisierten Ärzten durchgeführt wird. Dabei wird nach einer körperlichen Untersuchung und Begutachtung des Röntgenbildes, je nach Art und Schwere der Fehlstellung, das Bein komplett durchgesägt, umgedreht und mit Fixateuren in der neuen Stellung gehalten, bis die künstliche Bruchstelle wieder stabil verknöchert ist, oder das Knie in einer passenden Position versteift – manchmal auch beides zugleich.
Letztgenanntes liefert meiner Erfahrung nach die besseren Resultate, wobei das jugendliche Alter dem Heilungsprozess zugute kommt. Neben den üblichen Risiken von Narkose und Post-OP-Komplikationen (z.B. Entzündungen), die aber bei qualifizierten Experten und dank gut dosierter Medikamente inkl. Schmerzmittel gut vertretbar sind, tragen erheblich veränderte, verlängerte und zum Teil verdickte Sehnen dazu bei, dass das Resultat des Eingriffs nicht immer vorhersagbar ist. Merkwürdigerweise scheint sich eine binnen weniger Wochen entstandene Abnormität auch bei einer zu 100 Prozent geglückten Operation zeitlebens nicht mehr zurückzubilden, weshalb die Tiere oft einen sehr charakteristischen Scharr- oder Zappel-Tic im betroffenen Bein zurückbehalten, der freilich nicht weiter stört und für Laien meistens unauffällig bleibt. Man könnte hier die Frage stellen: Was war zuerst da, eine fehlgebildete Sehne oder ein ebensolcher Knochen?
VORAUSSICHT
Nach Entfernen der Fixateure (3 – 4 Wochen nach der OP) und einer mehrwöchigen Rekonvaleszenz mit Physiotherapie und naturmedizinischer Unterstützung kann sich der Vogel im besten Falle völlig normal bewegen; ggf. bleibt eine mehr oder weniger sichtbare leichte Gehbehinderung zurück. Da wir angesichts der langwierigen, einiges an Nerven und Geld kostenden Therapie, die zudem während der initialen Prägungsphase des Jungtieres vorgenommen wird, ohnehin eine lebenslange menschliche Obhut einplanen, ist auch eine nicht perfekte Lauf-Performance gut zu akzeptieren.
Meiner Erfahrung nach kompensieren körperbehinderte Tauben, gerade jene, die schon in solch zartem Alter derart viel an medizinischen Interventionen (inkl. stationärer Aufenthalte) auf sich nehmen mussten, ihre Einschränkungen mit besonderer Intelligenz, Wachheit und Selbstbewusstsein. Unterschiedlichste Personen, die mir solch ein Tier zwecks Kurierfahrten und Intensivpflege anvertrauten, drückten es mit identischen Worten aus: „Seine Augen rufen ‚Ich will leben!‘ Da konnte ich ihn einfach nicht töten lassen!“ Ebenso wichtig wie eine Entscheidung für oder gegen eine Operation (bei der man mit allem Drumherum mit 600 oder mehr Euro rechnen muss – eine Unsumme für ein Stadttauben-Projekt mit Hunderten oder Tausenden zu versorgenden Vögeln!) ist die Arztwahl, wie leidvolle Erlebnisse zeigen.
FIXIERUNG VON AUSSEN ODER INNEN?
Es ist wichtig, vor dem Eingriff Erkundigungen einzuholen, vor Ort gezielte Fragen zu stellen und ggf. eine Zweitmeinung abzufragen. Vor allem, welche OP-Technik und Nachsorge-Methode angewendet werden soll:
Nur den Fuß umzudrehen reicht bei einem auf Flügelhöhe oder darüber rotierenden Bein nicht aus. Praktiziert der Tierarzt zusätzlich die Knieversteifung? Arbeitet man mit externen Fixateuren oder ausschließlich mit innen im Knochen angebrachtem Metall (das das Risiko des Verrutschens in sich birgt)? Wird ein Schutzverband angelegt oder bleiben die Wundstellen offen, und werde ich mit dieser Situation klarkommen?
Der Anblick des filigran anmutenden Fixiergestells, das aus den zarten Vogelbeinchen herausragt, ist nicht jedermanns Sache. Ich kann aber versichern: Wenn der Operateur sein Handwerk versteht, hält diese Vorrichtung erstaunlich viel aus. Steht der Patient gleich nach der Operation auf beiden Beinen und darf sich unter Aufsicht frei bewegen oder wird er fixiert (ausgenommen das wenig einschränkende, kleine Schritte ermöglichende Zusammenbinden der Füße), eventuell sogar komplett immobilisiert? Letzteres wird manchmal verharmlosend als „Boxenruhe“ bezeichnet und ist meiner persönlichen Erfahrung nach ein absolutes No-go, zumal es ja auch anders geht!
Eine Ganzkörper-Zwangsfixierung über 2 – 3 Wochen kann gerade bei den zu ausgeprägtem Bewegungsdrang neigenden Jungtäubchen zu internistischen Problemen, herabgesetztem Immunsystem und seelischer Selbstaufgabe führen. Egal welche guten „Argumente“ vorgebracht werden, kann ich nur von einer solchen Vorgehensweise abraten.
OPERATIONSZEITPUNKT
Außerdem gilt es abzuwägen, welcher Zeitpunkt für die OP günstiger ist. Während der eine Experte erst weitgehend ausgewachsene (nicht erwachsene) Tiere operiert (also mit ca. 6 Wochen), um nicht die sich noch verändernde Knochenlänge kompensieren zu müssen, empfiehlt ein anderer Kollege ein möglichst schnelles Handeln (z.B. mit 4 Wochen) unter Umgehung der Wachstumsfugen-Problematik. Die Tatsache, dass fast alle Grätschbein-Küken ab der 3. Lebenswoche anfangen, sich an der „gesunden“ Ferse, ggf. auch der Bauch-/Kloake-Region wund zu scheuern und sich zunehmend auch das andere Bein vom schiefen Liegen verformt, spricht für den früheren OP-Termin. Erst recht, wenn Kotabsatzprobleme auftreten, weil der kleine Patient nicht aufstehen kann. Sofern man diese Sekundärschäden durch Intensivbetreuung in Schach halten kann (wobei das Betten auf ultraweichem Fleece, eventuell sogar in ein Tragetuch, sowie Knochenaufbau bei Kalziummangel und die Behandlung von bereits eingetretenem Dekubitus wichtig sind), kann begrenztes Abwarten eine gute Wahl darstellen, weil der Vogel dann stabilisierter ist. Dass man allerdings ein halbverhungertes Tier nicht gleich operiert, ist einleuchtend. Wahrscheinlich gibt es einen goldenen Mittelweg, der für jedes Individuum herauszufinden ist.
ALTERNATIVEN
Betreffend der OP-Nachsorge erreichte mich kürzlich die Mitteilung, dass es auch gute Erfahrungen mit einer speziellen Hängematte gibt. Auch hier gilt es, stets den Einzelfall zu betrachten, denn nicht für jedes Tier ist eine solche Therapie möglich oder nötig. Unser Toliman z.B. lief unmittelbar nach der Operation ohne jegliches Üben perfekte Taubenschritte. Zusammenfassend kann ich versichern: Bei allen Federn nervlicher und finanzieller Art, die man bei der Betreuung eines Grätschbeinchens lässt: Ja, es lohnt sich!
S. FAJIRON SCHÄFER
VERHALTENSFORSCHERIN
BUCH-TIPP
Die geringsten unter uns oder Tauben sind zum Küssen da
S. Fajiron Schäfer
Typostudio Schumacher-Gebler GmbH
ISBN 978-3941209695
19,80 €
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Fotos: © J. Ebbesmeier, © H. Weber, © Dr. M Bürkle, © F. Schäfer